Paul Watzlawick war für mich ein Ideengeber, um Strategien zu kreieren

Von Dipl.-Psych. Ortwin Meiss

Es ist schon lange her, aber ich erinnere mich, die Lektüre von Paul Watzlawick war diejenige, die mir eine entscheidende Türe zur Psychotherapie öffnete. Über die Veröffentlichungen der Palo Alto Gruppe wurde ich auf das Werk von Gregory Bateson und auf das der Konstruktivisten aufmerksam. Über die »Psychologie des Als-Ob« kam ich zu Milton Erickson. Die Erkenntnistheoretischen Überlegungen der Palo Alto Gruppe wurden zur Grundlage meines Denkens und meiner therapeutischen Arbeit.

Paul Watzlawick war einer derjenigen, der dieses Denken populär und für die Psychotherapie nutzbar gemacht hat. Ein entscheidender Aspekt ist dabei die Erkenntnis, dass jede psychische Störung auf einem Muster an inneren Strategien beruht, also als eine aktive Leistung des Individuums zu sehen ist, welches diese Störung entwickelt. Diese Strategien zu stören, zu unterbinden oder zu verändern ist ausreichend, um die Symptome aufzulösen. Man fand damals für diese Art des Vorgehens den Begriff der »Strategischen Therapie«. 

Die Verwendung von Paradoxien in der Psychotherapie wurde von Paul als eine der Möglichkeiten aufgeführt, wie eine unpassende zu Symptomen führende Strategie verändert werden kann. Dieses Vorgehen wird noch heute z.B. in der Sexualtherapie angewendet, wenn eine sexuelle Störung sich über die Entwicklung von Versagensängsten und Leistungsdruck entwickelt hat und ein Koitusverbot ausgesprochen wird, was die Paare dann häufig brechen.

Paul Watzlawick war für mich ein Ideengeber, um Strategien zu kreieren, das Problemmuster eines Klienten durcheinander zu bringen. Der folgende Fall bezieht sich genau auf das, was ich von Paul gelernt habe und zeigt, wie man mit paradoxen Interventioenen ein anscheinedn nicht kontrollierbares Symptomverhalten unterbrechen kann, um in einem zweiten Schritt mit der Betroffenen eine Alternative zu konstruieren, wie man das Ziel, das bislang nur über das Symptom erreicht wurde, auf eine andere Weise zu erreichen. 

Schon alles versucht

Zu einer Zeit als ich noch Student der Psychologie war und mich mit dem Buch Lösungen von Paul Watzlawick beschäftigte, bin ich zu Besuch bei meiner Mutter in einer mittelgroßen Stadt, wo ich  des Mittags an einem stadtbekannten Schüler- und Studententreff zufällig auf eine mir bekannte junge Frau treffe. Als sie hört, dass ich Psychologie studiere, zeigt sie mir ihre abgekauten Nägel, die sie nicht wie die meisten Fingernägelkauer bis zu den Fingerkuppen abgekaut hat, nein sie hat es geschafft, die Nägel vollständig abzukauen, so dass nicht die Spur von einem Nagel zu sehen ist. Schlimmer noch, sie kaut auf dem Nagelbett weiter, weshalb dort, wo man üblicherweise einen Fingernagel sieht, eine stark zerfurchte Fläche entstanden ist, und sich eine dicke Hornhaut gebildet hat. (Jahre später werde ich in der stark zerfurchten Salzwüste im Death Valley in Kalifornien mit dem passenden Namen „Devils Golf Course“ wieder an diese Nagelbetten erinnert).

Auf meine entsetzten Blicke beeilt sie sich zu erklären: „Kann man nichts gegen machen! Meine Mutter hat schon alles versucht, mein Vater hat schon alles versucht, wir waren bei Arzt, haben Senf drauf geschmiert und Heftpflaster draufgeklebt, hat alles nichts genützt.“

Durch diese Worte herausgefordert schlage ich ihr vor, es doch einmal mit der verhaltenstherapeutischen Methode des »Negativen Übens« zu versuchen: „Da kaust Du von zwölf bis viertel nach zwölf Fingernägel, ob Du Lust hast oder nicht.“ (Laut Theorie von Dunlap, der diese Methode innerhalb der Verhaltenstherapie populär gemacht hat, entsteht dabei eine reziproke Hemmung des Symptomverhaltens. Diese Theorie ist überholt.) Ihre Reaktion auf meinen Vorschlag ist überraschend eindeutig: „Wenn ich das machen sollte, dannn würde ich um zwölf aufhören zu kauen und um viertel nach zwölf wieder anfangen.“ Mit anderen Worten animiert sie der Vorschlag, genau das Gegenteil von dem zu tun, was ich ihr vorgeschlagen habe.

Dies scheint eine Gelegenheit für eine paradoxe Verschreibung. Ich teile ihr mit, dass es in ihrem Fall nötig sei, noch einmal zu recherchieren bzw. meinen Professor zu fragen, was man in ihrem Fall machen könne. Dann verabschiede ich mich von ihr, entferne mich einige Schritte und stehe schon auf dem Absatz einer Rolltreppe zu einer Unterführung. Dann rufe ich ihr zu: „Und bis ich wiederkomme, ist eins ganz wichtig: Bloß nicht aufhören, auf jeden Fall weiterkauen!“ Sie bleibt im ersten Augenblick wie vom Donner gerührt stehen und dann ruft sie „Halt, halt.“ , doch ich beeile mich davon zu kommen.

Da die Stadt zum einen nicht allzugroß ist und eine überschaubare Anzahl Kneipen aufzuweisen hat, will es der Zufall, dass wir uns am Abend wiedertreffen. Noch ehe ich sie erblickt habe, stürmt sie auf mich zu und beginnt mich vor den anderen Gästen zu beschimpfen. Wie habe ich ihr nur den Vorschlag machen können, weiter zu kauen, wo sie doch seit Jahren versuchen würde aufzuhören. Ich frage sie: „Und hast Du denn weiter gekaut, wie ich Dir das gesagt habe?“ „Nein,“ ist die Antwort, „immer wenn ich kauen wollte, fiel mir ein, dass Du es gesagt hast, ich solle kauen, und dann ging es irgendwie nicht mehr.“ Bei dem folgenden Gespräch über diese überraschende Unfähigkeit weiterzukauen, hüpft sie hektisch von einen Bein auf das andere, kommt mir dabei beständig zu nahe, so dass ich zurückweiche, was sie animiert weiter vorzurücken. Auf eine Bemerkung zu ihrem hektisches Gehüpfe sagt sie: „Kann ich nichts gegen machen! Kann ich nichts gegen machen!“ „Machs noch ein bißchen doller!“ fordere ich sie auf, und augenblicklich steht sie starr, wie eine Salzsäule. Sie selbst blickt verständnislos an sich herunter, fassungslos über ihre plötzlich entstandene Fähigkeit, vollkommen ruhig zu stehen.

Um das Geschehene kurz zu reflektieren: Die paradoxen Verschreibungen des Symptomverhaltens führen zu Unterbrechungen des Problemmusters zu welchem gehört, dass die Person das problematische Verhalten spontan und unwillkürlich zeigt. Die paradoxen Verschreibungen unterbrechen das Symptomverhalten. Eine langfristig stabile Veränderung entsteht, wenn der Betroffene diese Unterbrechung für die Selbstregulation hin zu einer neuen Alternative für das Symptomverhalten nutzt. Dazu ist neben der Frage: Wie kommt das Symptomverhalten zustande?, auch die Frage interessant: „Warum ist es überhaupt entstanden? Und »Welchem Ziel dient es?«.

In dem beschriebenen Fall, ergibt sich nach diesen Interventionen zwischen mir und der jungen Frau ein intensives Gespräch über ihr subjektives Gefühl, ihr Leben nicht selbst bestimmen zu können, sondern von anderen, insbesondere ihren Eltern und nahen Verwandten kontrolliert und in der eigenen Autonomie eingeengt zu werden. Ich weise sie darauf hin, dass niemand sie kontrollieren könne, denn niemand sei in der Lage vorherzusagen, welchen Nagel sie als erstes wieder wachsen lasse: ihre Mutter wisse das nicht, ihr Vater wisse das nicht. Auch ihr Onkel, der sich in ihr Leben versuche einzumischen, wisse das nicht. Genauso wenig sei ich in der Lage, dies vorherzusagen. Auch könne niemand vorhersagen, welcher Nagel dann der zweite wäre, für den sie sich entscheide.

Tatsächlich habe ich zu dem damaligen Zeitpunkt Zweifel, ob in dieser Nagel-Wüste überhaupt noch ein Fingernagel wachsen würde. Um so überraschter bin ich, als sie mir bei unserm nächsten Treffen einige Monate später einen vollständigen Fingernagel präsentiert, dies mit den Worten: „Das ist der erste!“ Ein zweiter Fingernagel ist zur Hälfte gewachsen und sie verweist auf diesen: „Und das ist der zweite!“ Ich bewundere sie ehrlich für ihre Fähigkeit, ihr Verhalten derartig zu verändern, und erkläre ihr, dass tatsächlich niemand vorhersagen könne, welcher der letzte sei, an dem sie noch kauen werde, und wann genau sie diesen wachsen lasse. Bei unserm letzten Zusammentreffen hat sie, vollständige, lange Fingernägel, die sie zum Ärger ihrer Eltern lang wachsen lässt.

Das Bedürfnis das eigene Leben selbst zu bestimmen und Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber den Kontrollversuchen anderer zu erlangen, ist eine hoher Wert in dem Leben der meisten Menschen. Gelingt es einer Person nicht, die Autonomie in sichtbarer Weise durch assertives Verhalten zu erreichen, so schafft sie sich oft ein Symptom, an dessen Beseitigung alle scheitern. Dieser Vorgang ist meiner Erfahrung nach meist völlig unbewußt und der betreffenden Person selbst nicht einsichtig. Es gehört vielmehr zum – mit den Bezugspersonen gespielten Spiel – dass die Person anscheinend kooperativ immer wieder Anläufe unternimmt, sich von ihrem symptomatischen Verhalten zu befreien, und bei diesem Versuch Eltern, Bekannte und therapeutische Koriphäen scheitern läßt. Durch die immer wieder bewiesene Unfähigkeit der Umwelt, sie von ihrem Verhalten zu befreien, und somit das Verhalten in den Griff zu bekommen, beweist sich die Person ihre Unabhängigkeit und Autonomie. „Ihr könnt mich nicht kontrollieren.“ Auch wenn das durch das Symptom verursachte Leiden ein offensichtlich hoher Preis ist, so sind die Kosten dennoch geringer als der Gewinn durch die anscheinende Autonomie gegenüber anderen.

Betrachtet man psychische Störungen als aktive Leistungen, die der Betroffene aktiv herstellen muss, so impliziert diese Vorstellung, dass die Störung sich dann verändert, wenn sich die Strategie ändert. Wie kann man nun solche Strategien explorieren? Paul hat dies in seinem Buch »Anleitung zum Unglücklichsein« vorgezeichnet. Man kann sich fragen, was man tun muss, um mit Sicherheit bestimmte Symptome oder Störungen zu produzieren?

Tatsächlich kommt man oft zu den verdeckten Strategien einer Problemkreierung, wenn man das Klientensystem anregt, darüber nachzudenken, wie man ein Problem, unter dem man leidet, systematisch erzeugt. Dieses Vorgehen eignet sich auf jeder Systemebene. Man kann ein Paar fragen, was sie machen müssen um ihre Ehe zu ruinieren oder ein Team, was man von ihm lernen kann, wie die Probleme entstehen, mit denen es sich herumschlägt. Selbst ein Unternehmen kann man fragen, was die Konkurrenz von ihm lernen könnte, wie man sich in die Schwierigkeiten bringt, in denen das Unternehmen sich befindet. Selbst wenn noch keine Probleme da sind, können solche Fragen das System immunisieren. Eine Frage auf Unternehmensebene könnte sein: Was muss man machen, um in zwei Jahren vom Markt zu sein? Oft stellt man dann fest, dass einiges von dem schon läuft. Dieses Vorgehen wird auch mit dem Begriff des »Kopfstand-Brainstorming« beschrieben.

Selbst bei körperlichen Themen lässt sich eine solche Frage stellen. Was muss man tun, um besonders schmerzempfindlich beim Zahnarzt zu reagieren? Eine meiner Patientin antwortete auf diese Frage: „Man muss sich genau auf den Punkt konzentrieren, wo der Zahnarzt gerade bohrt. Es ist das Gefühl: Die ganze Welt versinkt im Backenzahn. Der bohrt und bohrt, und es nimmt kein Ende. Es ist fast wie Tunnelbau, der müsste irgendwo schon wieder rauskommen. Es ist fast so, als könnte ich sehen, wie der Zahnarzt langsam älter wird, graue Haare bekommt, und dann kommt der Nachfolger und übernimmt den Bohrer!“ 

Paul hätte sich über diese Antwort gefreut. Sie hätte prima in sein Buch »Anleitung zum Unglücklichsein« gepasst. 

ZUM AUTOR: Dipl.-Psych. Ortwin Meiss, Milton Erickson Institut Hamburg, ausgebildet in verhaltenstherapeutischen, tiefenpsychologischen, gestalttherapeutischen und systemischen Ansätzen; zudem Hypnose und hypnotherapeutische Verfahren und Reprozessing-Verfahren (ähnlich EMDR); betreut u.a. High-Performer im Bereich Sport (1. und 2. Bundesliga, Weltmeister und Weltrekordler), Künstler, Sänger, Musiker Sport; Lehrtätigkeiten an der Universität Hamburg und am Universitätskrankenhaus Eppendorf.

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