Frau Dr. Verena Kast, vormalige Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen C.-G.-Jung-Institut  sowie Psychotherapeutin, spannt einen Bogen über das Werk von C.G. Jung und Paul Watzlawick, welcher 1950-1954 seine psychotherapeutische Ausbildung am C.G. Jung-Institut in Zürich absolvierte.

Wie könnte sich die Ausbildung am C.G. Jung-Institut auf Paul Watzlawick ausgewirkt haben?

Paul Watzlawick studierte von 1950 bis 1954 am C.G. Jung-Institut und ließ sich zum Jungschen Psychoanalytiker ausbilden. Das Institut wurde 1948 gegründet.  Watzlawick studierte also an einem Institut mit Anfängergeist, das sehr lebendig war. Bekanntlich ging Watzlawick damals einen anderen Weg – und doch frage ich mich heute hier: Wie viel von C.G. Jungs Denken findet sich in Watzlawicks Denken wieder?

Paul Watzlawicks Abschlussarbeit für den Erwerb des Diploms als Psychoanalytiker des CG-Jung-Instituts befasste sich mit dem Thema: „Dostojewski und die Freiheit“.  Eine seiner Quintessenzen: „Und da muss er (Raskolnikow) erkennen, dass ein Mensch, der von einer einzigen Idee besessen ist, die Freiheit verliert und zum Sklaven der Idee wird. Und eine Konsequenz: Wo immer Freiheit auftaucht, gibt es notwendigerweise auch Unfreiheit“. (Er betrachtet Unfreiheit und Besessenheit als Synonyme). In seiner Thesis berührt er also das Problem der Gegensätze, das ihn noch lange begleiten wird – und das auch ein Grundthema der Jungschen Psychologie war und in seiner grossen Bedeutung geblieben ist. Die Einseitigkeit, glaubt Watzlawick, wurzelt im menschlichen Bewusstsein, das jeweils nur die Hälfte eines Gegensatzpaares erfasst, dass der Mensch das „Sowohl-als-auch“ nicht begreifen kann und es immer wieder in ein „Entweder-oder“ zerlegt. Natürlich bleibt die andere Hälfte nach wie vor wirksam – wir würden sagen, im Unbewussten. Bewusstes und Unbewusstes, Gutes und Böses sieht er in diesem Traktat als unverzichtbare Bestandteile der Ganzheit, deshalb muss ihre Antinomie ins Gleichgewicht kommen, um die Vereinigung des Bewusstseins mit den unbewussten Gesetzen des Lebens zu ermöglichen und zur Ganzheit zu führen. Das ist robustes Jungsches Denken: Gedanken der Komplementarität, Reflexionen über die Funktion und Problematik von Gegensätzen haben Jung in seinem Denken von Anfang an bis zu seinen letzten Schriften begleitet. Beginnend mit „Symbole der Wandlung“ – endend mit „Mysterium Coniunctionis“ – das sich mit der Synthese und Trennung von Gegensätzen befasst – und das sein letztes großes Werk war.

Komplementarität und Wandel

Ideen zur Komplementarität gehören zu den Theorien des Wandels: Heraklit, der Philosoph des Wandels, sprach von der „Enantiodromie“. C.G. Jung übernahm diesen Begriff: Enantiodromie verstanden als die regulierende Funktion von Gegensätzen. Jung brachte in diesem Zusammenhang die Selbstregulierung der Psyche ins Spiel.  „Der alte Heraklit,…, entdeckte das wunderbarste aller psychologischen Gesetze: die regulierende Funktion der Gegensätze. Er nannte es Enantiodromie, das Entgegenlaufen, worunter er verstand, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe. (Jung, GW 7, § 111) Dieser Gedanke ist im Denken von Paul Watzlawick von enormer Bedeutung. Er zitiert Jung aus seinem Buch „Symbole der Wandlung“: „Jedes psychologische Extrem enthält insgeheim sein Gegenteil oder ist auf andere Weise eng und wesentlich mit ihm verwandt. Ja, es leitet aus dem Kontrast seine eigene, eigentümliche Dynamik ab. Es gibt keinen heiligen Brauch, der nicht in sein Gegenteil verkehrt, und je extremer eine Stellung wird, desto eher ist ihre Enantiodromie, ihre Verkehrung ins Gegenteil, zu erwarten“. (GW5, §581) Das bedeutet aber, dass, wenn das Gegenteil eintritt, nichts wirklich Neues geschieht – für Watzlawick tritt ein Nulleffekt ein, und der Beweis, dass das Gegenteil noch keine Lösungen bringt: Solche „Lösungen erster Ordnung“ sind nach Watzlawick noch keine Lösungen. 

Lösungen „zweiter Ordnung“ sind notwendig. 

C.G. Jung spricht in diesem Zusammenhang von der Spannung der Gegensätze und davon, dass durch diese Spannung mit Hilfe der so genannten „transzendenten Funktion“ neue Symbole entstehen werden. (CW8, § 131 – 193) C.G. Jung spricht daher von einem kreativen Prozess, der „Lösungen zweiter Ordnung“ ermöglicht. Die Grundidee und Grunderfahrung der analytischen Psychologie nach C.G. Jung ist, dass sich die Psyche kreativ im Sinne von „Selbstregulation“ oder Selbstorganisation verändert: d.h. kreativ werden, um aus einem Ungleichgewicht immer wieder einen Ausgleich zu finden, um Anpassungen an die Anforderungen der Außenwelt und der Innenwelt zu finden. Dieser kreative Prozess vollzieht sich in den Beziehungen zwischen dem Unbewussten, den archetypischen Strukturen, den Komplexen und dem Bewusstsein und damit auch mit anderen Menschen, der Welt. Der kreative Prozess entwickelt sich zwischen zwei Polen, entwickelt sich, wenn man den anderen, das Gegenteil, das Du – und damit auch den konstruktiven Widerspruch – mit einbezieht. 

Jungs Ideen über Kreativität haben einen großen Einfluss auf die psychotherapeutische Praxis. Indem der Mensch kreativ ist, gelingt es ihm, neue Entwicklungen aufzunehmen, die sich in neuen Bildern und neuen Emotionen manifestieren. Im kreativen Prozess zeigt sich die Wechselwirkung zwischen Innen und Außen in der Entstehung von etwas qualitativ Neuem. Für Jung ist dies die dritte Sache. Neue Symbole, also neue Ideen und neues Verhalten – das sind mögliche Lösungen zweiter Ordnung in der Terminologie von Paul Watzlawick.

Die Idee der Komplementarität und Enantiodromie wurde wahrscheinlich von Paul Watzlawick intensiver ausgearbeitet als von den Kolleginnen und Kollegen der Jungschen Richtung der Psychoanalyse. Zwei außerordentlich erfolgreiche Schriften von ihm: „Anleitung zum Unglücklichsein“ (1983) und „Vom Schlechten des Guten“ (1986), beruhen auf diesem Prinzip beruhen – allerdings verbunden mit den von ihm entwickelten Theorien der Kommunikation . Es sind hinreißend anregende Bücher – und obwohl sie leichtfüßig wirken, sind sie sehr inhaltsreich und geben wichtige Hinweise auf das menschliche Sosein.

ZUR AUTORIN: Verena Kast, Prof. Dr. phil., Jahrgang 1943, studierte Psychologie, Philosophie und Literatur und promovierte in Jungscher Psychologie. Sie war Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen C.-G.-Jung-Institut und Psychotherapeutin in eigener Praxis. Von April 2014 bis März 2020 war sie Präsidentin des C.G. Jung-Instituts, Zürich, Küsnacht.

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