Paul Watzlawicks Fundamente für einen Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften

Fritz B. Simon

Vor vielen Jahren war ich mit ihm in Kontakt gekommen, als ich als junger Arzt in einer großen psychiatrischen Anstalt arbeitete und nach irgendeinem theoretischen Rahmen suchte, der mir erlaubte, aus dem unreflektierten Reagieren auf das, was auf Station Überraschendes geschah, herauszukommen, um handlungsfähig zu werden. Jemand schenkte mir das Buch „Lösungen“ von Paul und einigen seiner Kollegen aus Palo Alto, und nach der Hälfte der Lektüre hatte sich mein Leben geändert, die Weiche war gestellt, ich konnte auf einmal zielgerichtet handeln (oder zumindest solch ein Selbstbild aufrechterhalten). Die von ihm dargestellte Kommunikationstheorie lieferte mir und meinen Kolleginnen auf der Station (einer Psychologin, einer Sozialpädagogin) fortan den Orientierungsrahmen für unser Tun. Und wir fingen zunächst damit an, die Klinik und unsere Station aus dieser Perspektive zu analysieren. Dabei stießen wir darauf, dass wir – damals Mitte der 70er Jahre, von basisdemokratischen Ideen beseelt – paradox mit unseren Patienten kommunizierten, wenn wir sie gewissermaßen aufforderten, autonom und unabhängig so zu entscheiden, wie wir es der Klinikleitung gegenüber und unserer – durch Gesetzte und Verordnungen geregelten – Rolle entsprechend vertreten konnten. Aus dieser Erfahrung entwickelte sich ein persönlicher Kontakt zu Paul Watzlawick, der mich schließlich in den 80er Jahren als Dritter im Bunde mit ihm und Heinz von Foerster die vom Mental Research Institute (MRI) in Palo Alto organisierten Sommerkurse durchführen ließ. 

Sein wichtigstes Verdienst aus heutiger Sicht besteht m.E. in der Verbreitung systemischen Gedankenguts. Er schaffte es, die manchmal doch sehr spröde und etwas wirr formulierten Ideen Gregory Batesons und seiner Mitarbeiter so aufzubereiten und zu ordnen – da half seine zwanghafte Seite –, dass auch unbedarfte Leute (wie ich als junger Arzt) sofort erkannten, welch Sprengstoff in ihnen lag. Seine Bestseller in Million-Auflage wie „Die Anleitung zum Unglücklichsein“ haben mE zwar bestimmte Denkfiguren populär gemacht, aber die waren nicht in der Lage das grundlegende geradlinig-kausale Paradigma des westlichen Mainstream-Denkens in Frage zu stellen; sie waren wohl kaum mehr als eine Modeerscheinung. Die Kommunikationstheorie von Watzlawick hingegen war in sich so weit konsistent und umfassend, dass sie zur Erklärung sozialer Systeme – von Familien, Teams und Organisationen beitrug; die Arbeiten Watzlawicks stehen für einen Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften – der Psychologie wie der Soziologie – und den daraus abgeleiteten Praxisformen, von der systemischen Einzel-, Paar- und Familientherapie, der systemischen Supervision bis zur systemischen Organisationsberatung.

Seit der Publikation von «Menschliche Kommunikation» und «Lösungen» haben sich die genannten Felder weiterentwickelt, aber sie gründen allesamt auf den von Paul gelegten Fundamenten. Auch wenn Kritiker immer wieder bemerken, dass die meisten theoretischen Konzepte und viele der Therapie- und/oder Beratungstechniken, die Paul dort präsentiert hat, ursprünglich einmal von anderen Leuten entwickelt wurden, kann die Wirkung seines Werkes kaum hoch genug eingeschätzt werden. Denn diese Kritik ist ebenso dümmlich, wie wenn man einem Koch vorwerfen wollte, er habe für sein geniales Menü die verwendeten Kartoffeln nicht selbst angebaut. Watzlawicks Verdienst ist es, aus vielen nebeneinanderliegenden rohen Zutaten ein ästhetisch befriedigendes und gut verdaubares Mahl komponiert zu haben. Gregory Bateson, der viele dieser Zutaten geliefert hat, unterscheidet in einem seiner Artikel zwischen «losem» und «strengem Denken». Bateson selbst war ein loser Denker, der wie ein Schmetterling von einem Erkenntnisgegenstand zum anderen flatterte: von der Biologie zur Anthropologie, von der Schizophrenieforschung zur Frage, wie Kriege entstehen, von der Epistemologie des Alkoholismus zum Lernen von Delfinen. Dem verwirrenden Eigensinn des losen Denkens Gregory Batesons setzt Paul Watzlawick sein strenges, an mathematischer Präzision orientiertes Denken entgegen. Er nutzt die lose nebeneinanderstehenden Skizzen Batesons, um eine in sich logische und schlüssige Theoriearchitektur zu entwerfen. Wer Watzlawick gelesen hat, kann dann auch Bateson mit Gewinn lesen und wertschätzen. Um es auf eine Formel zu bringen: Erst Paul Watzlawick hat für die Verbreitung der batesonschen Ideen gesorgt. Erst diese Kombinationen losen und strengen Denkens hat für den Erfolg von System- und Kommunikationstheorie in den Humanwissenschaften und ihrer praktischen Anwendung gesorgt. Diese Systematisierung ist eine originäre kreative Leistung Paul Watzlawicks, die nicht hoch genug bewertet werden kann.

ZUM AUTOR: Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).

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