Auf einen Kaffee mit Paul Watzlawick

von Sonja Saad

Regen peitscht mir ins Gesicht. Vor mir steht Margarete, Herzogin von Tirol zu Fuße der Kärntner Burg Hochosterwitz. Wir schreiben das Jahr 1334. Es dämmert, Margarete mault: „Jetzt lagern wir hier schon seit Wochen und die droben in der Burg haben sich noch immer nicht ergeben, irgendwann müssen die doch ausgehungert herauskommen. Sogar unsere Vorräte gehen zuneige.“ Der Regen verstummt, die Sonne geht langsam auf, es regt sich etwas auf der Burg. Erwartungsvoll läuft Margarete näher, da fällt etwas Großes über die Burgmauer. Ihre Soldaten schleppen es herbei und legen es vor Margaretes Füße, ein geschlachteter Ochse mit zwei Säcken Gerste im Bauch. Kaltes Schauern erfasst mich, als ich in Margaretes wutentbranntes Gesicht blicke. Sie schreit: „Ha, das sind Klausraben, die eine gute Zeit ihre Nahrung in die Kluft zusammengetragen haben, die werden wir nicht so leichtlich in unsere Klauen fassen. So wollen wir sie in ihrem Nest sitzen lassen und uns andere gemästete Vögel suchen!“ Sodann zieht sie ab mit ihren Männern, ich blicke ihnen noch nach als ich mich im nächsten Augenblick oben auf der Burg Hochosterwitz mit einem mageren Herrn Schenk von Osterwitz und anderen Personen an einem löchrigen Holztisch wiederfinde. Niemand nimmt Notiz von mir. Verzweiflung liegt in der Luft. Da tritt plötzlich ein adrett gekleideter Herr im Anzug hinter einer Mauer hervor und fragt: „Was müsst ihr tun, um das Problem zu verschlimmern?“ Alle starren ihn ungläubig an. Stille. Dann traut sich ein mutiger Magerer: „Wir müssen unseren letzten Ochsen und unsere letzten zwei Säcke Gerste essen, denn danach haben wir gar nichts mehr zu essen. Wir verhungern oder werden von Margareta Maultasch kaltblütig dahingemetzelt.“ „Mehr derselben Lösung wie bisher ist also keine gute Idee. Mein Freund Heinz von Foerster betont immer ‚Erweitere die Anzahl der Möglichkeiten‘ also, welche Möglichkeiten gibt es noch?“ fragt der Mann im Anzug, welcher seltsam unwirklich erscheint in dieser Szenerie. Ratlose Gesichter. Da erschallt plötzlich die Stimme Epiktets aus einer weißen Wolke mit neun schwarzen Flecken: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die Meinungen, die wir über die Dinge haben.“ Augenblicklich erstarren alle in einer Konfusionstrance, an der auch Milton Erickson seine helle Freude gehabt hätte, selbst der Mann im Anzug schaut einen Moment verdutzt, fängt sich aber schnell wieder und lächelt verschmitzt in die Runde als er fragt: „Was würde Margaretes Überzeugung, dass ihr am Verhungern seid, am meisten verwirren?“ 

In der nächsten Sekunde finde ich mich in einem schicken Wiener Kaffeehaus wieder. Vor mir steht ein herrlich duftender Kaffee mit einem Stückchen Sachertorte, von der ich gleich mal koste. Da erst bemerke ich Paul Watzlawick und Ludwig Wittgenstein, sehr vertieft in einen Dialog über die Suche nach dem Sinn des Lebens. Das kommt mir Recht, den suche ich auch noch, also hoffe ich die Lösung beim Zuhören aufzuschnappen. Was ich von Paul höre erschüttert mich. Die Frage nach dem Sinn sei die falsche Frage, weil die Frage nach dem Sinn der Sinnfrage leer ist in dem Augenblick, in dem sie auf sich selbst zurückfragt. Sie stürze die Menschen, die den Sinn suchen, in tiefe Verzweiflung, flüstert er Wittgenstein zu. Und dieser ergänzt: „Das Rätsel gibt es nicht. Die Lösung des Problem des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ So einfach? Ich lache und nehme noch einen Schluck Kaffee. 

Vom Nachbartisch aus ruft mir eine ältere Dame mit Hut  höhnisch lachend zu: „Wie froh bin ich, dass ich Sachertorte nicht leiden kann; denn schmeckte sie mir, dann würde ich sie essen – und ich hasse dieses Zeug.“ Ihr Lachen wird schriller und schriller, es dröhnt in meinen Ohren und plötzlich merke ich, wie mein Tisch zu wackeln anfängt, er verschwindet im Boden und im nächsten Moment finde ich mich auch schon hinabsausend in einen dunklen Tunnel wie Alice im Wunderland wieder. Ich schaue nach oben in den sich entfernenden hellen, wohlig-warmen Lichtschein des Wiener Kaffeehauses und sehe Paul und Ludwig’s Köpfe, wie sie mir – völlig ruhig – nachschauen. Ich falle, tiefer und tiefer und höre noch wie Wittgenstein mir nachruft: „In den besseren Stunden aber wachen wir soweit auf, dass wir erkennen, dass wir träumen.“

Ich danke Paul Watzlawick dafür, dass er meine Welt auf den Kopf gestellt hat und mich gelehrt hat, wie man sich – wie Münchhausen – am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Durch seine geschichtenreichen Publikationen wurde für mich Kommunikation lebendig und ich erkannte, dass ich nicht ein außenstehender Beobachter der Welt bin, sondern ich die Welt ständig selbst erschaffe und dass ich sie nicht so erschaffe, wie mein Mann, meine Kinder, meine Kollegen sie erschaffen und doch „stimmen“ unsere Weltbilder alle. Er hat mir mit der Beschreibung von zirkulären Prozessen in Beziehungssituationen dafür die Augen geöffnet, dass ich nicht unbeteiligt bin an der Reaktion des anderen. Ich erkannte durch ihn meine Wirksamkeit zur Beeinflussung der Situation und er regte mich an, Umdeutungen zu finden und verrückte Lösungen zu denken. Wir alle – und jede Generation wieder – werden mit blinden Flecken geboren und Paul Watzlawicks zeitloses Werk hilft dabei, unsere blinden Flecken – zumindest  etwas – zu verkleinern und mehr Bewusstheit einkehren zu lassen, was mich  zu mehr Gelassenheit führte.

Schließen möchte ich mit seinem Aufruf der Kettenreaktion von Gütigkeit und Toleranz, wozu er sinngemäß folgende Geschichte erzählte: Stell dir vor es ist ein regnerischer Abend und vor dir hält ein Auto, der Fahrer steigt aus und entfernt sich und Du bemerkst, dass er das Licht angelassen hat. Du läufst ihm im strömenden Regen nach und machst ihn darauf aufmerksam. Diese liebe Geste hat das Potenzial einer Kettenreaktion, denn sie beeinflusst den freudig-überraschten Fahrer, der beim nächsten Mal einer anderen Person etwas Nettes zukommen lassen wird. 

Im Jahr 2021 wären Sie 100 Jahre alt geworden, HAPPY BIRTHDAY Paul Watzlawick!

Quellen: Inspiriert durch Paul Watzlawicks Werke: „Lösungen“ (1974, 9. Aufl. 2020, S. 11, S. 62, S. 133, S. 151), „Die Möglichkeit des Andersseins“ (1977, 7. Aufl. 2015, S. 24, S. 46, S. 40f., S. 43) „Münchhausens Zopf“ (1988, 2. Aufl. 2011, S. 198, S. 202f., S. 211, S. 215); Video „Wenn die Loesung das Problem ist“ (1987) https://www.youtube.com/watch?v=cl4aZTPsTSs und: Köhler-Ludescher, Andrea: „Paul Watzlawick – Die Biographie“

ZUR AUTORIN: Sonja Saad ist Diplom-Betriebswirtin (FH), Mediatorin (BM®) und zertifizierte Coach und Unternehmenscoach (IfBE); Ihre Tätigkeitsschwerpunkte sind insbes. systemische Beratung von Einzelpersonen, Paaren und Teams; Ausbilderin beim Systemischen Institut Karlsruhe systemiker.de sowie Dozentin an der Hochschule Offenburg für Soziale und Interkulturelle Kompetenz u.a.

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