Ein Appell an die Intuition aller Beteiligten

Dirk Baecker
Universität Witten/Herdecke

Von Heinz von Foerster gibt es einen Aufsatz, der nur wenige Jahre nach Paul Watzlawicks, Janet H. Beavins und Don D. Jacksons Buch über die Menschliche Kommunikation (1969) erschienen ist. Er trägt den Titel „Computing in the Semantic Domain“ (1971) und empfiehlt, sich auch in der Beschreibung sinnhafter, also psychischer und sozialer Systeme an das Vorbild der Thermodynamik oder auch der Ingenieurswissenschaften zu halten und nicht etwa einzelne Operationen, Elemente oder Relationen, sondern Gesamtsystemeigenschaften an den Anfang der Beschreibung zu setzen, also zum Beispiel Energie, Entropie, Ungewissheit, Redundanz. Ich wüsste zu gerne, was Paul Watzlawick von dieser Empfehlung gehalten hat. Mit welcher Gesamtsystemeigenschaft würde man im Fall sozialer oder psychischer Systeme starten? Ließe sich „Kommunikation“ (Claude E. Shannon) oder auch „Kontrolle und Kommunikation“ (Norbert Wiener) im Fall sozialer Systeme als ein solcher Gesamtsystemzustand interpretieren? Und müsste man dann nicht in der Alternative zwischen Emergenz und Dekomposition deutlich für letztere optieren, also Systeme als „konstituiert von oben“ verstehen (Luhmann, 1981)?

Watzlawick scheint Kommunikation genau so verstanden zu haben. Der pragmatische Kalkül der Kommunikation, nach dem er mit Beavin und Jackson suchte und der den Schlüssel zu „myriadenfachen Erscheinungen der menschlichen Kommunikation“ liefern sollte (Watzlawick/Beavin/Jackson, 1969, S. 43f.), ist ein Kalkül, der von „Erscheinungen pragmatischer Redundanz“ (ebd., S. 42) ausgehend, in der Lage sein sollte, Phänomene der Reziprozität, der Interpunktion, des Ichbewusstseins und der Möglichkeit pathologischer Entwicklungen aufzuschlüsseln. Dieser Kalkül ist bis heute nicht geschrieben. Nach meinem Eindruck liegt er der Arbeit vieler Therapeuten und Berater zugrunde, aber er bleibt implizit. Sobald man versucht zu erklären, was man tut, weicht man auf Ansätze aus, die von Elementen und Operationen ausgehen und das System aus dem Verlegenheitsbegriff der Emergenz ableiten. Aber das System ergibt sich nicht aus unseren Handlungen. Es liegt ihnen wie ein Versklavungsparameter (Hermann Haken) voraus. Selbst wenn wir unsere Systeme kreativ verändern, gehorchen wir einem Spiel, das hinter den Kulissen längst im Gange ist (Mara Selvini Palazzoli).

Ist das zu pessimistisch? Watzlawick hat mit seinen Koautoren eine Unterscheidung eingeführt, die gerade heute wieder auf Interesse stoßen sollte, aber zu selten diskutiert wird. Sie haben zwischen Analog- und Digitalkommunikation unterschieden (Watzlawick/Beavin/Jackson, 1969, S. 61ff.) und die Analogkommunikation als Umgang mit dem Widerspruch und die Digitalkommunikation als Umgang mit der Negation beschrieben. Digitalkommunikation ist jede Kommunikation, die aus 0/1- oder Ja/Nein-Unterscheidungen komplizierte (Watzlawick et al. sprechen von „komplexen“) Verschachtelungen von Argumenten aufbauen können. Sie macht die Negation explizit, indem mit ihrer Hilfe zwischen den beiden Seiten jeder Unterscheidung schnell und leicht gewechselt werden kann. Wer gerade noch Ja gesagt hat, kann im nächsten Moment Nein sagen – und alle wissen es. Die Analogkommunikation hat keinen Ausdruck für „nicht“. Sie arbeitet stattdessen mit Kontrasten, Widersprüchen, Ambivalenzen. Jemand fletscht zu Zähne. Nur der Kontext inklusive der beteiligten Körper, ihrer Gestik und Mimik liefert Hinweise, ob das als Lachen oder als Aggression zu verstehen ist.

Zum einen würde ich empfehlen, in unserer aktuellen Diskussion über Prozesse der Digitalisierung nicht nur auf Computer, Algorithmen und Programme Künstlicher Intelligenz zu schauen, sondern auch in unseren sozialen Beziehungen und in unseren Denkweisen darauf zu achten, wann und wie wir in 0/1-, Ja/Nein-, Schwarz/Weiß-Unterscheidungen unterwegs sind und uns somit längst „digitalisiert“ haben. Zum zweiten hätten wir dann einen Gegenbegriff zu Prozessen der Digitalisierung, nämlich die Analogkommunikation, die mit Beziehungen arbeitet, deren reiche Komplexität (im Gegensatz zur Kompliziertheit) sich aus ihrer Widersprüchlichkeit ergibt. Sie sind nicht das eine oder andere. Sie sind beides zugleich.

Und drittens wäre das ein Hinweis auf den Gesamtsystemzustand der Kommunikation. Kommunikation ist ein Appell an die Intuition aller Beteiligten (Watzlawick/Beavin/Jackson, 1969, S. 67). Und schon der nächste Schritt ist wieder ein Appell an die Intuition aller Beteiligten. Man kann zwischen Inhalt und Beziehung, digitaler und analoger Kommunikation wechseln, aber nie, es sei denn durch Gewalt, entkommt man der Notwendigkeit, schon in der nächsten Situation wieder interpretieren zu müssen und wechseln zu können. 

ZUM AUTOR: Dirk Baecker lehrt Soziologie, Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Internet: catjects.wordpress.com, Twitter: @ImTunnel

Literatur: 

Luhmann, Niklas (1981): Wie ist soziale Ordnung möglich? In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 195–285.

von Foerster, Heinz (1971): Computing in the Semantic Domain, in: Annals of the New York Academy of Sciences 184, S. 239–241.

Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson (1969): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, Bern: Huber.

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