Erst die Beziehung dazwischen ergibt das Phänomen. Onkel Paul hinterließ mir zahlreiche Fragen

Von Andrea Köhler-Ludescher

Es war damals im weißen VW-Käfer meiner Eltern, als ich Onkel Paul von einem Termin in Pörtschach abholte, um ihn zu meiner Oma und seiner Schwester nach Villach zu bringen, wo er wieder einmal einige Zeit bei ihr im Haus verbringen wollte. Ich war Studentin und irgendwie mit dem Konstruktivismus in Kontakt gekommen; der mir schleierhaft war. Also nutze ich die gute Gelegenheit, um Onkel Paul danach zu fragen. Um es kurz zu machen – Onkel Paul war sehr bemüht; ich auch! Und ich hab´s nicht verstanden und mich darauf ausgeredet, dass ich ja Jus studiere, da lernten wir das nicht; ausgerechnet Jus, weil Goethe war Jurist und ich liebe Bücher; und Onkel Paul hat gemeint: „Na vielleicht wirst Du ja auch einmal schreiben…“; womit wir uns versöhnlich der schönen Kärntner Landschaft zugewandt haben. Mehr oder weniger; er wohl mehr und ich wohl weniger J

In Verbindung – mit oder durch einen Kontext?

Der berühmte Onkel aus Amerika war immer wieder da und doch meist weg, „Er arbeitet unten im Kammerle,“ oder „Ja Pauli ist gerade da. Aber er ist unterwegs, der hat immer was zu tun“. Mehr Gelegenheit ihm näherzukommen hatte ich, als ich begann, seine Bücher zu lesen; und als ich meine systemischen Ausbildungen begann, und als ich dann begann, für seine Biografie zu recherchieren. Sie brachte mich zu Fritz B. Simon, Matthias Varga und Gunther Schmidt, sowie u.a. zur „Wunderbaren Katze und andere Zen-Texte“. Eine neue Welt tat sich auf, schrittweise, sickerweise, verdauweise. Mit so vielen unterschiedlichen Aspekten! Welchen hier und jetzt wählen?!?

Wenn ich das hier schreibe, habe ich drei, vier Schlagworte auf dem Block neben mir stehen, die mir einfielen, als ich mich hingesetzt habe und mir kurz überlegt habe, wie mich Onkel Paul beeinflusst hat, und welche Bedeutung er für mich heute hat; mal sehen; ich bin zeitlich im Agonal-Modus (nach SySt®), nein – systemischer gesagt – ich tipsle mich im Agonal-Modus diesem Text entgegen; nein – der Text entsteht aus mir in Verbindung mit dem aktuellen Kontext – aus meiner Sitzhaltung, den Geräuschen draußen, den Farben der Felder und des Himmels, aus der Beschaffenheit des Raumes, den ich unbewusst wahrnehme, vorallem das Licht, den Geruch, die Temperatur, dem zeitlichen davor und danach, dem Menschen im Haus, uvam. Säße ich in einem anderen Raum, auf einem anderen Sessel und vorallem zu einer anderen Tageszeit und mit anderen Menschen – ich bin überzeugt, die Gedanken gestalteten sich anders und die Worte wären divers. Dieses (inter-personale) Kontext-Bewusstsein habe ich vor kurzem in der „Menschlichen Kommunikation“ wiederentdeckt, nachdem ich dem Kontextbegriff u.a. bei George Spencer Brown nähergekommen war und mit vielen konkreten Beobachtungen im Alltag verbinden konnte. „Es gibt gestörte Beziehungen, aber nicht gestörte Individuen“, hatte ich von den Palo Alto-Gruppen über Watzlawick gelernt; dann habe ich von den Priming-Wirkungen gelesen und die Feldenkrais-Neuvernetzungen wie Kreativitäts-Boosts für Lösungen, auch Lösungen 2. Ordnung für mich erlebt. Matthias Varga sagte einmal nach meinem Verständnis: „Kontext ist die Art einer Betrachtung“; und eine Ayurveda-Ärztin in Sri Lanka meinte: „Man ist nicht, was man isst, sondern wie man verdaut.“ Kontext.

Die Beziehung als eigene „qualité emergente“

Mich beschäftigt der Gedanke, dass Beziehungen nicht nur einen relevanten Kontext re*framen, sondern ihre Form etwas ganz Eigenes darstellt. Im Sinne von Onkel Paul: „Ich arbeite nicht an den Menschen, die mit Problemen zu mir kommen, sondern an der Beziehung zwischen ihnen, die ist mein Patient.“ Er verweist auf das Wasser: Die physikalische Eigenschaft des Wassers wird man nie verstehen, wenn man getrennt Wasserstoff und Sauerstoff untersucht, denn Wasser ist eine Beziehungsstruktur zwischen diesen beiden. Erst die Beziehung ergibt das Phänomen Wasser. Oder wie Goethe es in „Faust I“ beschreibt: „Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt, leider! nur das geistige Band.“ Es gilt, die „Beziehung“ – la qualité emergente (der französischen Biologen der 30er) als überpersönliches Drittes zu denken – zu erkennen, dass eine Beziehung mehr und anders geartet ist, als die Summe der Eigenschaften der beiden Beziehungspartner. „Gegenüber dem Ich gibt es das Du, um das Ich herum gibt es das Wir“, so Watzlawick, der sich einmal als Magnetnadel, die sich in einem Magnetfeld ausrichtet, beschrieb.

Wenn Otto Scharmer im Interview mit Fritz B. Simon (der mit Formen der System-Kopplungen antwortet, vgl Claus Otto Scharmer im Gespräch mit Fritz B. Simon auf YouTube 19. Mai 2011) von Verschiebungen der Aufmerksamkeitsstruktur und einem gemeinsamen Bewusstsein in einem sozialen Feld spricht, frage ich mich, ob er eine Form dieser Beziehungsstruktur anspricht; oder ist es ein „Feld“, mit dem Stephen Gilligan im Generative Trance-Ansatz arbeitet? Oder eine Struktur der transverbalen Sprache nach SySt®, die zwischen den Teilen emergiert und wirkt? Beeindruckt von einem Online Improtheater-Erlebnis frage ich mich – wo füllt das eigene Gehirn in konstruktivistischer Form Lücken und wo sind wir im „in between“? Je nach Kontext? Je nach Fokus? Sind es beide? Keines von beiden? Oder all dies nicht; und selbst das nicht!?!

Wie das Wasser, das nach dem Wasser sucht

Heute ist mir der Konstruktivismus im Watzlawick´schen Sinne der „objektiven“ Wirklichkeit 1. Ordnung und „subjektiven“ Wirklichkeit 2. Ordnung vertraut ( Das Glas Wasser mit hälftigem Wasserstand steht prominent als Erklärung für die Wirklichkeit 1. versus  2. Ordnung: für den Optimisten ist es halb voll, für den Pessimisten ist haargenau dasselbe Glas – halb leer. Welch ein Unterschied!) Und wenn mir die Haltung in der Alltagshektik auch manchmal entgleitet, so ist er doch bald wieder präsent. Vorallem sind es die Konsequenzen eines gelebten Konstruktivismus, die Onkel Paul genannt hat, die mir heute Bedeutung geben: „Konstrukteure der eigenen Wirklichkeit würden sich durch drei besondere Eigenschaften auszeichnen. Sie wären erstens frei, denn wer weiß, dass er sich seine eigene Wirklichkeit schafft, kann sie jederzeit auch anders schaffen. Zweitens wären diese Menschen im tiefsten ethischen Sinne verantwortlich, denn wer tatsächlich begriffen hat, dass er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, dem steht das bequeme Ausweichen in Sachzwänge und in die Schuld der anderen nicht mehr offen. Und drittens wären diese Menschen im tiefsten Sinne konziliant, tolerant. Denn wer sich als Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit sieht, muss das auch jedem anderen zugestehen“.

So entwickle ich denn im 100. Jubiläums-Geburtstagsjahr von Onkel Paul im Schritt für Schritt und im Sinne seines „das Große liegt im Kleinen“ und habe dazu oft das wunderschöne Beispiel vom Fisch im Wasser im Kopf, das Karlfried Graf Dürckheim Onkel Paul einmal erzählt hat: Dürckheim hatte Altmeister Suzuki gefragt: „Was ist das vom Menschen immer gesuchte und ihn doch ja stetig um- und durchflutende Sein? Ist es etwa so, wie der Fisch, der nach dem Wasser sucht?“ Suzuki hatte mit weisem Lächeln geantwortet: „Es ist noch mehr. Es ist so, wie wenn das Wasser nach dem Wasser sucht.“

ZUR AUTORIN:  Dr. Andrea Köhler-Ludescher, lebt in Wien und kuratiert das Paul Watzlawick Institut; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsentwicklerin und psychologische Beraterin tätig; freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick; Paul Watzlawick war ihr Großonkel.

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