Lieber Leser,

der kOS-Text bezieht sich auf meine Bilder ab ca. 2015 – obwohl auch Vergangenes mitschwebt.

In der Watzlawick Sprache: die Magnetnadel, die sich eingeschwungen hat auf jenen mystischen, unbegreiflichen Punkt, der nicht mehr allzu berechenbar ist, aber immer spürbarer und blühender wird.

So wie die Kurven des Pendels, nur mit Fernsehsendern statt Kurvenpunkten. Statt eines Punktes beschreibt eine visuelle Narration die Position und die Richtung des Gleichgewichts. Es ist irgendwie schwierig, das mit Worten zu sagen, dann klingt es gleich wie das Gerede in Texten zur Kunst.

Ich hoffe, ich konnte Antworten geben. Ich finde, es sollte wie Jazz sein.

Liebe Grüße, Martin Denker

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kOSDie Materie des 21. Jahrhunderts wirkt instabil

Naturkatastrophen, Bevölkerungsexplosion, Globalisierung, systemische Krisen in Politik, Gesellschaft und Individuum – all dies digital erleuchtet vom paradoxen Informationsüberfluß der Gleichzeitigkeit von Information. In der Geschichtswissenschaft wird die Theorie des Chaos zur Beschreibung von Krisen und Übergangszuständen verwendet.

In der Mythologie entsteht aus dem Chaos das Leben, aus dem Geist die Materie: die Gottheiten der Erde und des Himmels, die mit unstillbarer Energie Form hervorbringen.

Energiezufuhr erzeugt in natürlichen Systemen Wachstum und Komplexität. Komplexität führt zu Instabilität. Instabilität schafft Sensibilität. Wenn ein natürliches System einen gewissen Grad an Wachstum erreicht hat, zeigt es chaotische Verhaltensweisen, indem es selbst auf kleinste Kräfte derartig sensibel reagiert, daß es sich in einem Dialog mit sämtlicher Energie des Universums befindet: sei es ein Stern, der erlischt, oder ein Pfennig, der zu Boden fällt.

Im Dialog mit ALLEM scheint Materie mit unproportionalen Reaktionen den dynamischen Geist eines freien Willens zu entwickeln – und zu handeln. Sie ist nicht mehr berechenbar. Der moderne Mensch hat die Phantasie des freien Geistes und des eigenen Willens. Wir meinen, als Subjekte individuell zu handeln. Wir denken, wenn wir einen Apfel losließen, würde er zu Boden fallen. Wir glauben, daß ein kleines Universum wie ein Uhrwerk funktioniert.

Das Chaos ist jene Stelle, an der der Vorhang dünn wird und wir hindurchsehen können auf die andere Seite. Die Frucht der Erkenntnis fällt nicht unbedingt. Zumindest gibt es Apparate, die ähnlich simpel sind wie ein Apfel, sich jedoch jeglicher Berechenbarkeit entziehen und somit unser materielles Weltbild erschüttern. Der Apfel würde hinter dem Vorhang tanzen. Jene Apparate schöpfen mit unstillbarer Energie immer neue Form – jeden Moment entsteht ein unwiederbringliches Bild im Bewußtsein eines Universums, das alles andere ist als ein berechenbares Uhrwerk, aber in dem alles immer miteinander in Verbindung steht: Diese Bilder können mit Hilfe des Lichts aufgezeichnet werden.

Der Mensch wird Zeuge von Schöpfung. Die Götter würfeln.

Wenn ein instabiles, mechanisches Pendel freien Geist und eigenen Willen zu haben scheint, um sichtbar sinnvolle und höchst ästhetische Handlungen zu vollziehen, ist dann der Mensch, der infolge von Energiezufuhr und Wachstum in der Komplexität ebenso instabil wird, auch ein sensibler Apparat und seine Handlung nur eine Reaktion? Hat Materie Geist oder ist sie Geist? Der vernetzte Mensch, der gewissermaßen mit ALLEM synchron im Dialog und in Verbindung steht, erfährt die Welt nicht mehr linear, sondern chaotisch .

Jede Information und jeder Gedanke, der per Knopfdruck aus irgendeinem weiten Teil des Systems zu ihm dringt, bewegt ihn zu beliebigen Zeiten fremdbestimmt: Unsere Wahrnehmung entspricht der des Pendels . Wir können betrachten, aber nicht fassen, und das erzeugt Demut. Auch der hochkomplexe Mensch ist kein isoliertes Individuum, das durch eine materielle Hülle begrenzt ist. Wir sind Teil eines Ganzen * , das sich aus unserem Körper hinaus in alles andere hinein erstreckt, auf dessen Energien wir sensibel reagieren – und das in gleichem Maße sensibel auf uns reagiert. Wenn ein Apparat dieses Bewußtsein entwickeln kann, kann es der Mensch auch.

Die Bilder des kOS, des kinetischen OS, zeigen Reduktion als die erstaunlichste Eigenschaft des Chaos: in letzter Instanz wird aus dem Bewußtsein seiner Irrationalität immer die höchste Harmonie neuer, universeller Ordnung emporsteigen. In der Mythologie ist das Chaos der Anfang des Kosmos: die wüste Leere des Geistes, die sich nur füllen kann, weil sie frei und unausgefüllt ist. In der Geschichtswissenschaft wird die Theorie des Chaos einst zur Beschreibung einer epochalen Erschütterung verwendet werden, die einen Übergang vom Zeitalter des materiellen zum geistigen Menschen markierte.

Der Geist des 21. Jahrhunderts wird sich stabilisieren:

Bewußtsein von Einheit, Zusammenhalt, Verbundenheit, Maß und Ausgewogenheit in Politik, Gesellschaft und Individuum – all dies erleuchtet vom Einklang synchronisierter Schwingungen eines vernetzten, schöpferischen Betriebssystems, das in der Unendlichkeit pendelt.

*) «Können Sie sich vorstellen, dass jemand sich ganz bescheiden als Magnetnadel empfindet, die sich einfach einspielen will auf höhere Kräfte, die der Magnetnadel vollkommen unverständlich sind?», fragt Paul Watzlawick einmal seinen Interviewpartner (F. Kreuzer im Gespräch mit Paul Watzlawick [Aufgezeichnet im ORF-Nachtstudio am 3. Juli 1981], Die Welt als Labyrinth (Franz Deuticke Verlagsgesellschaft, Wien 1982) :

Die Magnetnadel spielt sich ein, steht dann – und es stimmt. Können Sie sich nicht vorstellen, dass man als Mensch unter Umständen so leben könnte? (…) Die Vibrationen der Nadel erfolgen durch die Veränderungen des Magnetfeldes. Das Vibrieren, das Einspielen, das Gefühl des Stimmens und nicht das Erkennen des Sinns wäre meines Erachtens sehr ausreichend. (Vielleicht) versuche ich damit eine Beziehung zwischen mir und der Welt auszudrücken. Auf das Erlebnis dieses «Stimmens» kommt es an. Wittgenstein drückt das sehr schön aus, wenn er schreibt: «Die Lösung des Problems merkt man am Verschwinden dieses Problems.» (Oder) mit Laotse: «Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn; der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name.» (…) Es muss nicht gleich der liebe Gott unserer noch dazu trivialisierten Alltagsreligion sein. Eher jenes Mystische, wie es Buddha ursprünglich aufgezeigt hat, ohne von einem Gott oder einem Himmel zu reden. Vor allem aber sind wir ja nicht allein. Gegenüber dem Ich gibt es das Du, um das Ich herum gibt es das Wir. Die Wirklichkeit wird ja nicht vom Einzelnen regellos und willkürlich konstruiert, sie ist eine Übereinkunft von Kommunikation.

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ZUM KÜNSTLER UND AUTOR: Aufgewachsen in der Nähe von Hamburg, studierte Martin Denker von 2001 bis 2006 bei Thomas Ruff an der Kunstakademie Düsseldorf wo er 2006 zum Meisterschüler wurde. Er arbeitete von 2002 bis 2006 als Assistent von Andreas Gursky. In seiner neusten Werkserie kOS widmet sich Martin Denker dem Chaos im 21. Jahrhundert. ( kunstunddenker.com/martin-denker/ )

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